© Daniel Schneider

über mich   •   ein interview mit gerhard habring

Gerhard Habring, sind Sie Techniker oder Mediator?


Ich fühle mich in beiden Welten zuhause. Der Techniker war zuerst da und mit ihm die Freude am Differenzieren, Dinge genau zu betrachten und sie ökonomischen und ökologischen Anforderungen gerecht werden zu lassen.
In die Mediation bin ich über mehrere Jahre hinweg quasi hineingewachsen. Mediation hat mich gelehrt, wie bedeutend es ist, Dinge genau zu betrachten - und sie dennoch nicht gleich zu beurteilen. Und den Blickwinkel zu ändern - hin zur Ganzheitlichkeit.

Führt der Weg zur Ganzheitlichkeit an einen „Ort jenseits von Richtig und Falsch“? Dieses Bild des Sufi-Meisters Rumi charakterisiert ja Ihre Arbeit als Mediator.


Im besten Fall, ja. Schon die Bereitschaft, sich auf einen Prozess einzulassen, der weg von Anklage und Schuldzuweisung hin zu Achtung und Respekt geht, ist bereits ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Gleichzeitig bedeutet der Weg auch ein Wagnis, nämlich tiefer zu blicken als aktuelle Kränkungen oder Verletzungen es zumeist erlauben. Wer diesen Weg gemeinsam und in Begleitung eines Mediators begeht, wird zumeist mit einem umfassenden Bild belohnt - einem Bild vom Anderen und von sich selbst.

Wie ist das möglich?


Wir Menschen tragen viel mehr Farbschattierungen in uns als auf den ersten Blick sichtbar. Cyndi Lauper nennt es die „true colors“ und meint damit wohl auch jene farblichen Nuancen, die gerne von Alltag, Zorn oder Kränkungen verdeckt sind. Gelingt es mir, die wahren Farbschattierungen meines Gegenübers zu sehen, ist dies der erste Schritt in Richtung des Ortes, von dem Dschalal ad-Din ar-Rumi vor fast 800 Jahren sagte, er liege „jenseits von Richtig und Falsch“.

Laufe ich als Konfliktpartei nicht Gefahr, mich selbst zu verraten, wenn ich nur darauf fokussiert bin, mein Gegenüber zu sehen und zu verstehen?


Nein. Die Bereitschaft, genau hinzuhören bedeutet ja nicht, mit der Position meines Gegenübers einverstanden zu sein. Es bedeutet lediglich, um ehrliches Verstehen bemüht zu sein und die Bedürfnisse sowie den Ausdruck des Anderen schlichtweg zuzulassen.
Marshall Rosenberg formuliert es mit seiner „Gewaltfreien Kommunikation“ sehr treffend: „Konflikte sind tragischer Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse.“ Eine, meiner Einschätzung nach, elementare Sichtweise für das Miteinander. Es mag einiges an Bereitschaft und Kraft kosten, unerfüllte Bedürfnisse aus dem Schutt alter Anschuldigungen und Kränkungen auszugraben. Einmal sichtbar gemacht, einander zu Gehör gebracht und ernstgenommen, ist dies allerdings eine wunderbare Basis des Verstehens, auf der sich kreative und tragfähige Lösungen für die Zukunft entwickeln können.

Wie tragen Sie als Mediator zur Lösung schwerwiegender Konflikte bei?


Als Mediator habe ich die verantwortungsvolle Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, die allen Konfliktparteien ein Suchen und Sehen von Lösungen ermöglicht und begünstigt. Die Lösung selbst kommt nie vom Mediator. Sie ist stets ein Produkt eines gemeinsamen Prozesses und erwächst aus gegenseitigem Verstehen in den Konfliktparteien selber. Die Lösung, für die sich die Konfliktparteien letztlich entscheiden, kann durchaus meine eigenen Vorstellungen übersteigen und ebenso unkonventionell sein wie der Streit selbst. Ein Beispiel hierzu von meinen eigenen Kindern, damals vielleicht sechs und neun Jahre alt, und der Grund ihrer Auseinandersetzung tut nichts zur Sache. Durch die Schlafzimmertüre wurde ich unfreiwillig Ohrenzeuge ihres Streits. Als die Wogen sich plötzlich glätteten, war ihre Lösung fünf mal fünf Zentimeter groß, ein Gutschein als Ersatz fürŽs Nachgeben, auf dem diese vier Worte vermerkt waren: „Einmal das Bessere kriegen“.

Wie sehr ist Marshall Rosenbergs „Gewaltfreie Kommunikation“ Grundlage für Ihre Arbeit als Mediator?


Rosenberg erzählte eines Tages im Rahmen eines Seminars von einem Mann, der ihn angefeindet, ihn als Mörder beschimpft hat. Er habe ihn angesehen, seine „Giraffenohren“ aufgesetzt, und ihn in Gedanken dieses Lied singen gehört - „see me beautiful“ - sieh die Schönheit in mir! Diese Sehnsucht nach Wahrnehmung der jeweils eigenen Bedürfnisse, Wahrnehmung des jeweils eigenen Schmerzes - sie sitzt so tief in uns allen. Die Kunst der „Gewaltfreien Kommunikation“ nach Rosenberg besteht darin, zu hören, was mir mein Gegenüber wirklich sagen will und mein Gegenüber in all seiner Schönheit zu erfassen - unabhängig von seinem Verhalten mir oder Anderen gegenüber.

Was hat es dabei mit den Giraffenohren auf sich?


Die Giraffenohren sind das Sinnbild für eine Sprache des Herzens. Giraffen haben von allen Landlebewesen das größte Herz und behalten zudem aufgrund ihres langen Halses den Überblick. Marshall Rosenberg benutzt den Ausdruck „Giraffensprache“ synonym für „Gewaltfreie Kommunikation“. Im Gegensatz dazu steht die „Wolfssprache“ für das in unserem Kulturkreis weit verbreitete Denken in Wertungskategorien. Der „Wolf“ ist jedoch nur eine „Giraffe mit Sprachfehler“.
In Konflikten neigen wir Menschen besonders dazu, zu „Wölfen“ zu werden und in „Sprachfehlern“ zu kommunizieren. In Wahrheit sehnen wir uns danach, „giraffisch“ miteinander umzugehen, was unserem tiefsten Wesenskern entspricht. Meine Aufgabe als Mediator ist es, diesen Blick zu bewahren und zu kultivieren.